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Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Beschluss vom 12. November 2020, 2 BvR 1616/18, zum Umfang des Akteneinsichtsrechts des Betroffenen in Bußgeldverfahren auseinandergesetzt. Die Entscheidung ist aus Betroffenensicht überaus bedeutsam. Dem Betroffenen war im zugrundeliegenden Fall vorgeworfen worden, die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h überschritten zu haben. Gemessen wurde die Geschwindigkeitsüberschreitung mit dem Messgerät PoliScan Speed M1 des Herstellers Vitronic.
Der Beschwerdeführer hatte in einem Bußgeldverfahren Akteneinsicht 1. in die gesamte Verfahrensakte, 2. eine ggf. vorhandene Videoaufzeichnung, 3. den ggf. vorhandenen Messfilm, 4. ggfs. die Rohmessdaten der gegenständlichen Messung in unverschlüsselter Form (…), 5. in die sog. „Lebensakte“ (…), 6. in die Bedienungsanleitung des Herstellers des verwendeten Messgerätes (…), 7. in den Eichschein des verwendeten Messgerätes, 8. in den Ausbildungsnachweis des Messbeamten - und/oder 9. sonstige Beweisstücke beantragt. Einige der begehrten Unterlagen, aus denen sich nach Auffassung des Betroffenen Argumente für die technische Fehlerhaftigkeit der zugrundeliegenden Geschwindigkeitsüberschreitung ergeben sollten, wollten sowohl die Bußgeldstelle, als auch später das Amtsgericht mit dem Argument nicht herausgeben, dass einige der weiteren geforderten Unterlagen nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien und nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt würden. Auch das Oberlandesgericht half im Rahmen der eingelegten Rechtsbeschwerde nicht ab.
Die Verfassungsbeschwerde war erfolgreich, das Urteil des Amtsgerichts Hersbruck vom 14. Dezember 2017 – 5 OWi 708 Js 110716/17 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 19. Juni 2018 - 3 Ss OWi 672/18 - wurden aufgehoben und die Sache wurde an das Amtsgericht Hersbruck zurückverwiesen. Das BVerfG hat entschieden, dass der Betroffene Anspruch auf Zugang zu den von ihm begehrten Informationen habe. Alles andere sei nicht mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar. Dem Anspruch des Beschwerdeführers auf Informationszugang auch zu den nicht zur Bußgeldakte genommenen Informationen müsse hinreichend Rechnung getragen werden. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, dass die technische Komplexität der bei Geschwindigkeitsmessung zum Einsatz kommenden Messmethoden und die bei standardisierten Messverfahren verringerten Anforderungen an die Beweiserhebung und die Urteilsfeststellungen das Bedürfnis der Betroffenen am Zugang zu weiteren die Messung betreffenden Informationen nachvollziehbar erscheinen lassen. Der Betroffene müsse sich durch das Recht auf Zugang selbst Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus den beantragten Aktenteilen entlastende Tatsachen ergäben. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssten deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Für ein erfolgreiches Akteneinsichtsgesuch muss der Betroffene demnach fortan nicht etwa, wie bei Beweisanträgen in Bußgeldverfahren, „konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen“.
Das BVerfG hat betont, dass der Betroffene die Informationen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehren müsse, was wohl bedeutet, dass dies schon in der Regel vor der Bußgeldstelle erfolgen müsse. Da die Entscheidung des BVerfG gerade erst ergangen ist, können derzeit die begehrten Aktenteile auch noch erfolgreich vor dem Amtsgericht angefordert werden, selbst wenn der Rechtsanwalt sie zuvor nicht bei der Bußgeldstelle beantragt hat. Dies gilt ohnehin selbstverständlich, wenn die ergänzende Akteneinsicht ihm bislang zu Unrecht von der Bußgeldstelle verwehrt wurde. Es kann fortan ohne Weiteres neben den oben genannten Aktenteilen ergänzende Akteneinsicht in die Rohmessdaten der gesamten Messreihe in unverschlüsselter Form sowie die Vorlage der Anordnung der zuständigen Straßenverkehrsbehörde über das geschwindigkeitsbeschränkende Verkehrszeichen nach § 45 StVO beantragt werden, um zu prüfen, ob die Geschwindigkeit an dieser Stelle durch wirksamen Verwaltungsakt und durch die zuständige Stelle beschränkt wurde. Sollten die zuvor benannten Informationen nicht übersandt werden, kann in diesem Zuge seitens des Rechtsanwalts die Einstellung des Bußgeldverfahrens beantragt werden.
Nach vorläufiger Einschätzung ist die Entscheidung des BVerfG noch nicht bei den Amtsgerichten „angekommen“. Letztere versuchen weiterhin regelmäßig ergänzende Akteneinsichtsgesuche bzw. die Herausgabe der begehrten Unterlagen abzuwehren.
Die Beratung durch einen spezialisierten Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht ist unbedingt zu empfehlen.
Die Ausführungen stellen erste Informationen dar, die zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung aktuell waren. Die Rechtslage kann sich seitdem geändert haben. Zudem können die Ausführungen eine individuelle Beratung zu einem konkreten Sachverhalt nicht ersetzen. Bitte nehmen Sie dazu Kontakt mit uns auf.