Rechtsanwalt Dr. jur. Dirk Lindloff, Rechtsberater in Koblenz
Magazin
Unser Infoservice für Sie
Samstag, 31.07.2021

Herr oder Frau als einzige verpflichtende Anredeauswahlmöglichkeiten auf Webseiten nicht ausreichend

Unterlassungsanspruch für nicht-binäre Geschlechtsidentitäten bei fehlender geschlechtsneutraler Anredeoption



von
Dr. jur. Dirk Lindloff
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz
Fachanwalt für Informationstechnologierecht

Rufen Sie mich an: 0261 - 404 99 45
E-Mail:

Die Diskussion um geschlechtsneutrale Formulierungen in Texten und Reden aller Art nimmt immer breiteren Raum in der Gesellschaft ein. Das betreibende Unternehmen einer Webseite musste nun feststellen, dass dies nicht nur ein Thema für Linguisten ist. Es kam zu einer Verurteilung. Wird das Urteil in der noch laufenden Berufungsinstanz geändert, wird die Webseite geändert werden müssen.

Shop bot nur "Herr" oder "Frau" als Auswahlmöglichkeiten

Die auf den Massenverkehr ausgelegt Webseite - dem Vernehmen nach angeblich der Online-Shop der Deutschen Bahn - hatte nur die Auswahlmöglichkeiten "Herr" oder "Frau" angeboten. Es musste beim Kauf von Waren oder bei der Registrierung zum Online-Shop eine dieser Auswahlmöglichkeiten zwingend gewählt werden. In der Folgekommunikation richtete sich das E-Commerce-Shopsystem dann nach der Auswahl und verwendete entsprechende Anreden bei der Abwicklung getätigter Käufe, bei Reklamationen oder in Werbezuschriften.

Forderungen der anspruchstellenden Person

Eine klagende Person mit nicht-binärer Geschlechtsidentität sah sich dadurch in ihren Rechten verletzt. Sie verlangte die Abgabe einer Unterlassungserklärung und 5.000 € Geldentschädigung.

Unterlassungsanspruch ist gegeben - Webseite muss geändert werden

Das Landgericht Frankfurt am Main gab dem Antrag auf Unterlassung mit folgendem Tenor statt:

"Die beklagte Person wird verurteilt, es zu unterlassen, die klagende Person bei der Anbahnung, dem Abschluss und der Abwicklung eines Dienstleistungs- oder …vertrags dadurch zu diskriminieren, dass
a) die klagende Person bei der Nutzung von Angeboten der beklagten Person zwingend eine Anrede als Herr oder Frau angeben muss und nicht eine geschlechtsneutrale Anrede auswählen kann;
b) die klagende Person bei der Ausstellung von …, Schreiben des Kundenservice, Rechnungen sowie begleitender Werbung und in der Verwaltung dafür gespeicherter personenbezogener Daten als Frau oder Herr bezeichnet wird."

Dies wurde ergänzt um die übliche Ordnungsmittelandrohung.

Die gewünschten 5.000 € "Schmerzensgeld" wurden nicht zugesprochen, aber die ausgesprochene Unterlassungsverurteilung muss man als Praktiker als sehr weitgehend einstufen, denn sie bedeutet im Ergebnis die Notwendigkeit, das Webshop-System vollständig um eine weitere neutrale Kommunikationsform umzuprogrammieren. Viele Webshops basieren auf mehr oder weniger fertigen Standard-Systemen und dürften für den einzelnen Seitenbetreiber nicht derart umfassend erweiterbar sein. Man könnte nun dem Thema entgehen, indem die Anrede keine zwingende Auswahl wird, aber auch darauf müsste das Shopsystem ausgelegt sein und die Möglichkeit bieten, dann mit neutralen Texten zu agieren.

Argumentationspotential für Folgefälle

Immerhin bietet das sonst sehr ausführlich begründete und abgewogene Urteil zu diesem Thema noch Potential, um in Folgefällen oder in der dort noch laufenden Berufungsinstanz zu diskutieren, ob jeder Webseitenbetreiber entsprechend verpflichtet ist.

Das Landgericht stellte selbst fest, dass der Webshopbetreiber nur in den Grenze der Zumutbarkeit zur Unterlassung verpflichtet werden kann. Er hat alle ihm rechtlich, wirtschaftlich und tatsächlich gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Beeinträchtigung auszuschließen. Demnach ist nur ein gewisser Mehraufwand dem Shopbetreiber zuzumuten.

Im Fall hatte nun aber das beklagte Unternehmen zum Thema Unzumutbarkeit in Bezug auf sich selbst nichts vorgetragen, sondern nur mit den allgemeinen Kosten der Umstellung im gesamten Konzern argumentiert. In Folgefällen könnte man an dieser Stelle somit versuchen, das Gericht von der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit entsprechender Änderungen zu überzeugen, wird aber darauf achten müssen, tatsächlich die Kosten für das beklagte Unternehmend darzustellen.

Möglichkeiten der Umsetzung

Kommt man hiermit nicht aus der Unterlassungspflicht heraus, wird im Urteil insofern sogar diskutiert, wie diese Anforderung umgesetzt werden könnte:

"Dieser Unterlassungsverpflichtung kann die beklagte Person also einerseits nachkommen, indem sie neben „Herr“ und „Frau“ weitere Anreden schafft, von denen mindestens eine geschlechtsneutral sein muss, zum Beispiel wie das von der klagenden Person vorgeschlagene „Guten Tag.“ Denkbar ist auch ein freies Textfeld, in welches eine Anrede eigener Wahl eingetragen werden kann. Dem Unterlassungsgebot kann die beklagte Person andererseits auch dadurch nachkommen, indem sie auf die Angabe einer Anrede verzichtet. Nur solange die beklagte Person auf einer zwingenden Anredewahl von entweder „Herr“ oder „Frau“ besteht, ist das Unterlassungsbegehren berührt."

Rechtliche Begründung

Rechtlich interessant sind die Ausführungen des Landgerichts zur Rechtslage. Ein Unterlassungsanspruch wurde nicht direkt aus  § 21 Abs. 1 S. 2 AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) gewährt, sondern über den Umweg der §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, was offenbar nicht einmal die klagende Partei vorhergesehen hatte.

Kein Verstoß gegen das AGG

Es fehlte nämlich tatsächlich an einer Benachteiligung im Sinne des AGG. Kurz gesagt wurde die klagende Person nicht vom Bezug der Waren ausgegrenzt, sie musste auch nicht mehr bezahlen oder erhielt sonst schlechtere Konditionen. Es konnte ganz normal und zu gleichen Konditionen wie für alle anderen Besteller gekauft werden und es gab keine Nachteile bei der Abwicklung. Der Vertrag und seine Ausführung war für alle gleich. Damit lag weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Benachteiligung iSv § 3 Abs. 1, 2 AGG vor, so dass die Voraussetzungen des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots nach § 19 AGG nicht erfüllt waren.

Somit konnte kein Anspruch nach dem AGG gewährt werden.

Allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzt

Das Gericht fand daher zu seinem Urteil über das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, bei dessen Verletzung die §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog einen Unterlassungsanspruch gewähren. Die Überlegungen zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht leitet das Landgericht Frankfurt am Main ein:

"Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt aber unter anderem die geschlechtliche Identität, „die regelmäßig ein konstituierender Aspekt der eigenen Persönlichkeit ist“ (BVerfG, Beschluss vom 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16 = NJW 2017, 3643, Rn. 39). Für das Auftreten in einer bestimmten Geschlechtsidentität ist nach allgemeinem Verständnis die Anredeform von zentraler Bedeutung (BVerfG, Beschluss vom 15.08.1996 - 2 BvR 1833/95 = NJW 1997, 1632, 1633), denn hierüber vollzieht sich regelmäßig die Zuordnung zu einem Geschlecht."

Die klagende Partei war nun gezwungen worden, sich für eine Anrede zu entscheiden und damit für ein Geschlecht. Als Person mit nicht-binärer Geschlechtsidentität wollte und konnte diese Entscheidung aber von ihr nicht getroffen werden. Sie musste sich und ihre Identität selbst verleugnen, um die Webseite nutzen zu können. Das Landgericht berief sich insofern weiter auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts:

"Da sich die Geschlechtsidentität eben auch über die Anrede ausdrückt, bedingt ihr Schutz auch die Achtung der Geschlechtsidentität bei der Anrede. So kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Person eine ihrem neuen Rollenverständnis entsprechende Anrede verlangen, wenn sie ihren Namen nach den Vorschriften des Transsexuellengesetzes bereits geändert hat (BVerfG, Beschluss vom 15.08.1996 - 2 BvR 1833/95 = NJW 1997, 1632, 1633; BGH, Urteil vom 13.3.2018 – VI ZR 143/17 = NJW 2018, 1671, 1675 Rn. 45)."

Diese Ausführungen veranlassten das Landgericht Frankfurt am Main nun im konkreten Fall noch zur Rechtsfortbildung, da die klagende Partei noch keine Personenstandsänderung durchgeführt hatte. Gleichwohl bestand für die Kammer offenbar kein Zweifel, dass die klagende Partei tatsächlich eine nicht-binäre Geschlechtsidentität hatte und ließ diese "gefühlte" Geschlechtsidentität in Anlehnung an weitere Urteile des Bundesverfassungsgerichts genügen. Insofern bestehe gerade eine gefühlte Gefährdung der selbstbestimmten Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit, wenn diese andauernd in einer nicht ihrer Geschlechtsidentität entsprechenden Form angesprochen wird.

Keine Gleichheit im Unrecht

Nicht unberücksichtigt blieb die allgemeine Handhabung. Das Gericht setzte sich durchaus damit auseinander, dass es quasi nirgendwo neben "Herr" und "Frau" eine weitere Auswahlmöglichkeit gibt. Hier gilt aber letztlich für das Gericht der Grundsatz "keine Gleichheit im Unrecht". Selbst dort wo massenweise Recht gebrochen wird, muss die betroffene Person deshalb nicht die Verletzung im Einzelfall der Nutzung des Beklagten-Webshops hinnehmen.

Eine Geldentschädigung wurde nun nicht zugesprochen, da es sich nicht um die notwendige schwerwiegende Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrecht handelte. Insofern steht jedenfalls keine "Klageindustrie" für die Betreiber von Webshops zu befürchten.

Fazit

Während es im Bereich der Stellenanzeigen bereits Usus ist, "m/w/d" zu suchen, besteht in anderen Bereichen die Empfehlung, eine geschlechtsneutrale Auswahlmöglichkeit zu schaffen, wo eine Anrede zwingend gewählt werden muss. Dies muss dann in allen Folgesystemen, wie Transaktionsmails, Anschreiben, CRM Systeme usw. ebenfalls umgesetzt werden.

Ausblick

Die Sache gab für das Gericht keinen Anlass, die Thematik unter datenschutzrechtlichen Aspekten zu betrachten. Auch aus Sicht der DSGVO kann aber Ungemach drohen und die Datenschutzcompliance erfordert es, sich des Themas anzunehmen.

Es gilt der Grundsatz der Datenrichtigkeit (Art. 5 Abs. 1 lit. DSGVO). Dem kann nur Rechnung getragen werden, wenn die gemeinhin als "Diverse" bezeichnete Personenkreise ihre Geschlechtsidentität entsprechend hinterlegen können.

Überdies sollte geprüft werden, ob die Anrede überhaupt zwingend erforderlich sein muss. Eine Prüfung unter dem Grundsatz der Datensparsamkeit (Art. 5 Abs. 1 lit. c DSGVO) wird häufig zu dem Ergebnis gelangen, dass aus diesem Grund keine Anredeauswahl vorzuschreiben ist.

Verfahrensgang:

  • LG Frankfurt, Versäumnisurteil vom 7. August 2020, 2-13 O 131/20
  • LG Frankfurt, Endurteil vom 03.12.2020, 2-13 O 131/20
  • OLG Frankfurt am Main, 9 U 92/20, bislang kein Urteil bekannt

Update 27.01.2022:

Das OLG Karlsruhe hat im Urteil vom 14. Dezember 2021 - 24 U 19/21 die vorstehenden Grundsätze bestätigt. Es sieht ebenfalls eine Unerlaubte Diskriminierung durch Auswahlmöglichkeit von nur zwei Geschlechtern beim Online-Shopping – aber keinen Entschädigungsanspruch.

Update 21.04.2022:

Es gab ein weiteres Verfahren ähnliches Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 26.08.2021, Az. 2-30 O 154/20. Aus der Pressemitteilung:

Die Beklagte ist Vertriebstochter des größten deutschen Eisenbahnkonzerns. Die klagende Partei besitzt eine nicht-binäre Geschlechtsidentität, seit Oktober 2019 lautet der Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde „ohne Angabe". Die klagende Partei ist Inhaberin einer BahnCard der Beklagten und bemühte sich seit Oktober 2019 vergeblich, die hierfür bei der Beklagten hinterlegten Daten hinsichtlich der geschlechtlichen Anrede anzupassen. Zudem ist es auch beim Online-Fahrkartenkauf als nicht registrierte Person im System der Beklagten zwingend erforderlich, zwischen einer Anrede als Frau oder Herr auszuwählen. Die klagende Partei ist der Ansicht, ihr stehe ein Anspruch auf Entschädigung und Unterlassung gegen die Beklagte zu, da deren Verhalten diskriminierend sei.

Das Landgericht hat mit Urteil vom 26.08.2021 der Klage teilweise stattgegeben. Der klagenden Partei stehe gegen die Beklagte ein Anspruch auf Unterlassung nach §§ 21 Abs. 1 S. 2 i.V.m. 19, 3 und 1 AGG zu, da die zwingende Auswahl einer Anrede als Frau oder Herr im Zusammenhang mit der BahnCard oder beim Online-Fahrkartenkauf eine Benachteiligung im Sinne des AGG darstelle. Jedoch sei der Beklagten eine Frist von einem halben Jahr einzuräumen, um den Eingriff zu beenden.

Ein Zahlungsanspruch aus § 21 Abs. 2 S. 3 AGG stehe der klagenden Partei hingegen nicht zu. Bei der gebotenen Abwägung sei das in der zögerlichen Umsetzung liegende Fehlverhalten der Beklagten im Hinblick auf den erfolgten Eingriff nicht als so schwer zu bewerten, als dass es die Zahlung einer Geldentschädigung begründe.

Dieses Urteil des Landgerichts Frankfurt ist vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main inhaltlich nicht überprüft worden. Die Rechtsanwälte der Deutschen Bahn hatten die Berufungsfrist versäumt.

Die Ausführungen stellen erste Informationen dar, die zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung aktuell waren. Die Rechtslage kann sich seitdem geändert haben. Zudem können die Ausführungen eine individuelle Beratung zu einem konkreten Sachverhalt nicht ersetzen. Bitte nehmen Sie dazu Kontakt mit uns auf.


Anwälte finden